Ikone, Objekt oder Muse? Frauen in der Kunst
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs betrat eine Dame in Grau namens Mary Richardson, die National Gallery in London und verunstaltete Velasquez‘ Venus, den laut Times „schönsten Akt der Welt“, um den Frauen Subjektivität und politisches Gewicht zu verleihen.
Im Jahr ’89 zog Ingres‘ nackte Odaliske, als Gorilla verkleidet, durch die Wände und Busse von New York. Die „Guerrilla Girls“, ein feministisches Kunstkollektiv, fragten die Passanten, ob Frauen nackt sein müssten, um das Metropolitan Museum zu betreten, da weniger als 5 % von ihnen in der Abteilung für moderne Kunst ausgestellt waren, 85 % der Aktbilder jedoch weiblich waren. Diese Aktionen wiederholten sich auf der Biennale 2005 und danach, als die Präsenz auf 3 % gesunken war.
Einige Jahre zuvor waren im dänischen Aarhus fünf Künstlerinnen nachts in das Aros-Museum eingedrungen und hatten dort ihre Werke versteckt, um eine bessere Sichtbarkeit von Frauen zu fordern. Dies sind die medialen Spitzen von Konflikten zwischen der Unsichtbarkeit von Frauen in der Kunst und dem massiven Rückgriff auf ihre Körperlichkeit – dem Zwiespalt zwischen schriftstellerischer Präsenz und körperlicher Sichtbarkeit
Künstlerinnen oder Musen?
Die Rolle der Frauen als Vorbilder und Musen hat sich im Laufe der Jahrhunderte deutlich verringert. Die inhärent sexistische Rollenverteilung erfuhr ab dem 20. Jahrhundert vorerst einmal eine Abwschächung: Camille Claudel und Frida Kahlo, wichtige Vorreiterinnen für ihre Kolleginnen, waren nicht nur Musen großer Künstler, sondern erschufen selbst Meisterwerke, wenngleich diese auch während ihres Lebens nicht die Anerkennung erfuhr, die sie heute haben.
Die klassische Rollenverteilung bei der die Frau Muse des Künstlers ist, bleibt bestehen. Es gibt auch Paare, bei denen sich Mann und Frau gegenseitig inspirieren, wie im Fall von Marina Abramovic und Ulay.
Vom Aktbild zur weiblichen Emanzipation
Jahrhundertelang zeigten künstlerische Darstellungen den weiblichen Körper durch den männlichen Blick. Seit den 1960er Jahren hat sich ein grundlegender Wandel vollzogen. Künstlerinnen ersetzten diesen rein männlichen Blick durch eine selbstbestimmte Vision.
Viele arbeiteten präzise mit ihrer Körperlichkeit, indem sie Performances realisierten, in denen sie sich bewusst unbekleidet präsentierten. Für die feministischen Künstlerinnen der ersten Generation bedeutete Nacktheit eine Form der Selbstbestimmung und Freiheit. Die Verwandlung vom Lustobjekt zur emanzipierten Version dient als Spiegelbild für die sich wandelnde Rolle der Frau in der Gesellschaft.
„Warum gibt es keine großen Künstlerinnen?“
Das ist eine dumme Frage, und die Kunsthistorikerin Linda Nochlin (1931-2017) dachte sich das sicherlich, als ein (männlicher) Galerist sie ihr mit wenig Sinn für Ironie stellte. Idealerweise antwortete Linda Nochlin selbst mit einem leidenschaftlichen und provokativen Essay, der 1971 als Teil einer kontroversen Ausgabe über „Women’s Liberation: Women Artists in Art History“ in der Zeitschrift ARTnews veröffentlicht wurde.
Dem Essay war der Slogan vorangestellt: ‚Implications of the Women’s Lib movement for art history and for the contemporary art scene-or, silly questions deserve long answers*‘. In rund 4.000 Wörtern demontiert Nochlin die Frage, um die ihr zugrunde liegenden Annahmen zu enthüllen, und zwar mit denselben dialektischen Waffen, mit denen sie auch heimlich die Antwort liefert: „Es gibt keine großen Künstlerinnen, weil Frauen nicht fähig sind, groß zu sein“.
Die Situation für Künstlerinnen heute
In den letzten zehn Jahren haben die öffentlichen Kunstinstitutionen damit begonnen, das große Ungleichgewicht zwischen der Repräsentanz weiblicher und männlicher Künstler:innen in ihren Sammlungen zu korrigieren. 2021 wird als außergewöhnliches Jahr in die Geschichte eingehen, wurden große Retrospektiven von Künstlerinnen erstmals zum Normalbild. Wanderausstellungen von Sophie Taeuber-Arp und Georgia O’Keeffe gewidmet sind, wurden von Nochlin in ihrem Essay 1971 noch erwähnt, haben somit umfassende Ausstellungen bekommen. Barbara Kruger, Judy Chicago, Paula Rego und Marina Abramovic sind weitere, die in den Kunstkanon aufgenommen werden.
Doch auch heute noch ist die Verwirklichung der Gleichberechtigung ein fortlaufendes Projekt. Der Schlüssel dazu ist, wie Nochlin sagt, die kritische Praxis. Anstatt Frauen einfach in den Kanon einzufügen, müssen Frauen den Kanon selbst öffnen. Wir müssen konventionelle Denk-, Schreib- und Sichtweisen in Frage stellen und Widersprüche herausfordern.
Diese kühnen und unverblümten Essays – nur zwei von vielen Beiträgen der Autorin zur Kunstgeschichte – geben den Leser:innen das Rüstzeug dazu. Sie ermutigen auch zum Widerstand. Wie Nochlin schrieb, „feministische Kunstgeschichte ist dazu da, zu stören, in Frage zu stellen, Federn zu kräuseln“.
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